Leseprobe Es wird schon werden


 

 

                                                             

Es wird schon werden

Eine Geschichte vom Auswandern nach Argentinien

Unter einer verwitterten Markise auf der Dachterrasse eines alten Hauses in Argentinien, genauer gesagt, in Mar del Plata, sitze ich auf einem abgewetzten Kneipenstuhl vor einem groben Tisch. Auf dem Tisch steht eine alte Schreibmaschine mit verchromter Tastatur. Die Transportfeder des Schlittens der Maschine ist gebrochen. Als Ersatz dient mir das Gummiband eines abgetragenen Frauenschlüpfers. Das Farbband ist neu. Der Stoß Schreibpapier ist original verpackt. Es ist Mittagszeit. Aus einigen der Innenhöfe in der Nachbarschaft steigen die Düfte gegrillten Fleisches auf, ziehen durch das Wohnviertel und machen Appetit auf einen deftigen Asado.

Zurzeit habe ich keine Arbeit, kein Geld und wenig Hoffnung auf Änderung. Diesen Stapel Papier habe ich und Zeit, viel Zeit.

Ich habe mich hierher zurückgezogen, um Ihnen diese Geschichte zu erzählen.

 

Ich liebe Argentinien und ich mag seine Leute. Obwohl ich hier immer wieder bis zum Hals in der Scheiße sitze. Dem ganzen Land steht es immer wieder bis zum Hals. Man nennt das hier ‚Crisis‘. Es ist, als lebe man auf einer riesigen Achterbahn. Zwei, drei Jahre geht’s gut und es geht unaufhaltsam bergauf. Das ganze Land auf dem Weg zu wirtschaftlicher Größe. Die Bevölkerung regt sich in freudiger Erwartung kommender, glanzvoller Zeiten. Und dann, scheinbar von heute auf morgen, saust die ganze Gesellschaft schreiend ins Tal, ins Jammertal. Sicher, jedes Land hat seine Schwierigkeiten. Hier aber haben die Schwierigkeiten ein Land. Ich hatte einige schöne Jahre hier, hatte viele Leute kennengelernt, war beschenkt und bestohlen, umarmt und überfallen worden, hatte getanzt, gelacht, geflucht, gearbeitet und mich bald an ein Leben gewöhnt, in dem das einzig Verlässliche die allgemeine Unzuverlässigkeit war.

 

Es ist lange her, dass ich das erste Mal nach Argentinien kam. Im Jahre 1986 war das. Das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Es war Ende April. Wir, meine damalige Frau Alicia und ich, saßen mit Freunden im Wohnzimmer unseres Hauses in Grasberg, einem unscheinbaren Dorf am Rande des Teufelsmoores in Niedersachsen und diskutierten über den Super-GAU von Tschernobyl. Erste Nachrichten im Radio meldeten damals, dass in Schweden, Finnland und Norwegen eine ungewöhnlich hohe radioaktive Strahlung gemessen worden sei. Dann berichtete die Tagesschau, dass ein Reaktorblock eines sowjetrussischen Atomkraftwerks in Tschernobyl explodiert sei und große Mengen radioaktiver Strahlung freigesetzt habe. Von da an überschwemmten uns die Medien mit Informationen, Berichten und Mutmaßungen über das Unglück: Eine unsichtbare, hochgiftige Wolke aus Strontium, Cäsium, Plutonium, Radium und was weiß ich noch allem, schwebe auf Deutschland zu, hieß es. Regengüsse spülten die strahlende Fracht auf Feld, Wald und Wiesen. Viele Menschen verkrochen sich in ihren Wohnungen. Hunde bekamen Schühchen an und die Kinder mussten ihre Zimmer aufräumen und zuhause spielen. Gesunde Waldpilze - ungenießbar. Salat wurde untergepflügt. Spinat brachte nicht mehr Kraft und Eisen, sondern Krankheit und Verderben. Die Muttermilch konnte langsames Siechtum bei den Säuglingen hervorrufen. Coca-Cola war jetzt gesünder als Milch. Die Nahrungsmittel hatten plötzlich neben den Angaben zu Vitaminen und Hydraten auch Hinweise auf die Belastung mit Becquerel, Jod, Cäsium, Strontium und Plutonium. Halbwertzeiten wurden bekannt gegeben. "Türen und Fenster bitte geschlossen halten. Wer nicht unbedingt das Haus verlassen müsse, bleibe besser daheim." Die arbeitende Bevölkerung solle jedoch beruhigt zur Arbeit gehen. Ernsthafte Gefahr für die Gesundheit bestehe nicht. Die Welt war verrückt geworden. Jodtabletten wurden geschluckt. Hamsterkäufe von Konserven, Trockenmilch, Mehl, Tiefkühlkost und anderen haltbaren Lebensmitteln aus vor-radioaktiver Zeit wurden getätigt. Ein befreundeter Mediziner meinte, es sei das Beste, das Land für die nächsten Jahre zu verlassen und dabei auch Europa weiträumig zu umfahren.

Innerhalb weniger Tage beschlossen wir daraufhin im Kreise der Familie nach Argentinien auszuwandern. Das Land hatte mit Atomkraft nichts am Hut und schien auch weit genug entfernt von jeder nuklearen Bedrohung. Auch war es das Geburtsland Alicias. Ihre große Familie, Großeltern, Tanten und Onkel lebte dort in Cordoba und Buenos Aires. Zudem hatte sie in ihrer Jugend in dem Land erste Erfolge als Sängerin errungen und die Kontakte jener Zeit über die Jahre bewahrt und gepflegt.

Bis dahin hatten wir ein ziemlich buntes Leben geführt, hatten viele Höhen und Tiefen durchlebt, folgten gerne auch mal einer ausgefallenen Idee und nahmen unerwartete Veränderungen des Alltags zumeist gelassen hin. Das hier war allerdings eine Nummer größer. Umso entschlossener gingen wir es an. Wir holten Informationen beim argentinischen Konsulat ein und besorgten die vielen geforderten Formulare und Dokumente. Wir kauften Werkzeuge, Kabel, Schrauben, Nägel, Rasensprenger, Heckenschere und alle möglichen Dinge, die uns nützlich und sinnvoll für unser neues Leben in Südamerika erschienen. Zwei Container wurden vorm Haus abgestellt, mit unserem gesamten Hausrat und meinem Tonstudio beladen und anschließend zur Verschiffung in den Hamburger Hafen gebracht. Es folgte ein tränenreicher Abschied von Mutter, Vater, Geschwistern, Freunden und Nachbarn. Meine Mutter fragte besorgt: „Habt ihr euch das auch richtig überlegt? Was wäre denn, wenn das alle so machen würden? Ihr wisst doch gar nicht, was da auf euch zu kommt“.

„Es machen nie alle zur selben Zeit das Gleiche, liebe Mutter“, antwortete ich. „Wir packen das. Es wird schon werden“.

 Zuerst flogen die Töchter Alicias, die damals auch ein bisschen meine Töchter waren, nach Cordoba zu einer Großtante. Ich folgte ihnen im November, und im Dezember sollte Alicia ihren Flug antreten. ( . . . . . )

 

(. . . . .) Der Tag meiner Abreise war gekommen.

Mein Flugzeug landete in tiefer Nacht auf dem Flughafen Ezeiza in Buenos Aires. Es war das erste Mal, dass ich argentinischen Boden betrat. Das Flughafengebäude wurde nur durch eine Notbeleuchtung erhellt. Man stelle sich das vor: Buenos Aires, eine Millionenstadt, und das Flughafengebäude liegt in einer Art Dämmerlicht. Ein Freund war aus Bahìa Blanca, einer Küstenstadt in Süden der Provinz Buenos Aires war rund 450 Kilometer angereist, um mich abzuholen. Er hieß Kurt, hatte meist ein leicht verschmitztes Lächeln im Gesicht, und seine blauen Augen, mit freundlichen Krähenfüßen in den Winkeln, verrieten Unternehmungslust. Er hatte sich in einem kleinen Nest Namens Villa del Mar einen Jugendtraum erfüllt und war als ehemaliger Hamburger Kaufmann hier zu einem Krabbenfischer geworden. Er freute sich aufrichtig über unsere Entscheidung, nach Argentinien auszuwandern, denn er war der leibliche Vater von Carmen und Clara. Der ehemals erzkonservative Ehemann von Alicia hatte die Trennung von ihr längst überwunden und bot hier freundschaftlich und umsichtig seine Hilfe an. Die Begrüßung war herzlich norddeutsch. Durch finstere Straßen fuhren wir von Ezeiza Richtung Zentrum. Alles, was das fahle Licht erkennen ließ, wirkte ungepflegt, ungeliebt, vernachlässigt, ranzig, hingeworfen wie etwas, das nicht mehr gebraucht wird. Als wir den Stadtrand erreichten, wurde es etwas heller. Das verschlimmerte allerdings meinen Eindruck. Die kleinen Wohnhäuser waren einfach hingeklatscht worden. Wände hoch, Fenster und Türen rein, Betondach drauf, Gitter vor die Fenster, fertig. Diese einfachen Behausungen waren nachlässig oder gar nicht gestrichen. Dazwischen aber, als hätten sie sich verirrt, immer wieder schöne, gepflegte Häuser und Gebäude. Die Schaufenster vieler Geschäfte sahen aus, als seien die Inhaber gerade erst eingezogen oder hätten den Laden längst aufgegeben. Hunde streunten durch die Nacht und unzählige Schrottautos standen an den schmutzigen, dunklen Straßenrändern. Auf dem Weg ins Zentrum wurde das Stadtbild etwas ansehnlicher. Meine vorsichtigen Kommentare riefen bei Kurt nur ein zweideutiges Lächeln hervor. Endlich stoppte er den Wagen. Wir stiegen aus und schleppten mein Gepäck in ein Apartmenthaus. Hier hatte er eine kleine Wohnung, die er nutzte, wenn er in Buenos Aires zu tun hatte. Die Wohnung war einfach eingerichtet und man spürte sofort, dass sie die meiste Zeit des Jahres unbewohnt war. Wir stellten das Gepäck in eine Ecke des Schlafzimmers, und setzten uns an einen kleinen Esstisch in der Küche. Ich holte eine Flasche Whisky, die ich im Duty-Free Shop gekauft hatte, aus einer Plastiktüte. Er stellte Gläser auf den Tisch. Der Begrüßungsschluck tat mir gut und ich spürte, wie sich seine heiße Spur hinunter bis in meinen Magen zog. "Argentinien ist nicht Deutschland", sagte er, "du wirst dich schon daran gewöhnen. Im Sonnenschein ist alles nur noch halb so schlimm. Hier ist das Geld knapper als in Alemania. Die Demokratie ist jünger, die Geschichte kürzer, die Politiker sind teurer, weil korrupter. Die Währung ist nichts wert. Das Rindfleisch ist erstklassig und auch der Vino tinto ist nicht schlecht. Fleisch und Brot sind billig. Also sind die Menschen zufrieden. Wir sparen Strom, weil derzeit nicht genug davon produziert werden kann. Deshalb sieht es nachts etwas düster aus. Aber auch mit weniger Licht kann das Leben ganz lustig sein. Wir werden morgen mal ein bisschen durch die Stadt fahren, ein paar Makler besuchen. Mal sehen ob wir eine Bleibe für euch finden". Wir tranken noch ein Glas und gingen dann zu Bett.

Als ich am Morgen erwachte, hatte ich kaum vier Stunden geschlafen. Ich duschte, zog mich an und ging auf den Balkon. Die ersten Sonnenstrahlen fingerten durch die Straße. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock, so konnte ich leicht einige Cuadras nach links und rechts überblicken. Gegenüber stapelte der Gemüsemann Kisten mit Orangen, Tomaten, Äpfeln, Melonen, Bananen und grünen Paprikaschoten vor sein Schaufenster. Tante Emma stellte ein Schild an die Straße, auf das sie mit Kreide ihre Sonderangebote geschrieben hatte, und der Metzger zog gerade die eisernen Jalousien seines Ladens hoch. Taxis, schon jetzt auf der Suche nach Kunden, fuhren langsam durch die enge Straße. Wenig später konnte man Tausende dieser gelb-schwarzen Taxis durch die Stadt fahren sehen. Ein Straßenfeger schob seine volle Karre vorbei, und an der Ecke wartete eine Gruppe von Menschen auf den Bus. Hier gab es eine ganze Reihe von mehrstöckigen Apartmenthäusern. Dazwischen, wie Kinder in einer Gruppe von Erwachsenen, kleine, zum Teil sehr alte Häuser, deren verzierte Fassaden von einer anderen Zeit erzählten. Die flachen Dächer der gegenüberliegenden Gebäude hatte man als Abstellflächen für alles Mögliche an Kram und Schrott genutzt. Rostige Tonnen lagen da, Drahtrollen, Wellbleche, Holzhaufen, Backsteinstapel, Fahrräder und Sperrmüll. Während mein Freund, Gastgeber, Dolmetscher und Fremdenführer unter der Dusche stand, besorgte ich das Frühstück. Ich ging runter auf die Straße und spürte erst jetzt die angenehme Wärme. Es war November. Die Zeit, in der mich das norddeutsche Schmuddelwetter trübsinnig macht. Hier überkam mich plötzlich ein gutes Gefühl. Ich ging ein Stück die Straße rauf, kam an einen Tante-Emma-Laden und ging rein. Hier konnte man sich nicht selbst bedienen. Das besorgte eine alte, resolute Frau, die vielleicht vor einem halben Jahrhundert aus Spanien hierhergekommen war. Sie redete sehr laut mit einem auffallend aufrechtstehenden alten Herrn, schlurfte mal hierhin mal dorthin und brachte von jedem Gang etwas mit, das sie auf den Tresen legte oder stellte. Als sie alles Gewünschte zusammengetragen hatte, machte sie die Rechnung, schrieb die Summe in ein abgegriffenes graues Buch, packte die Ware in eine Papiertüte und reichte sie dem alten Herrn über den Tresen. Das war wie in den 50er Jahren in Deutschland, dachte ich. Sie wechselten noch ein paar Worte, die ich natürlich nicht verstand, lachten noch einmal kurz auf, und der Alte verließ den Laden. Ich kaufte ein halbes Kilo Weißbrot, Butter, Salami, Käse und ein Tütchen mit 50 gr. Kaffee. Ja, das gab es hier noch. Wie damals in Deutschland. Nach dem Frühstück suchten wir in der Zeitung nach Immobilien und kreuzten bezahlbare Objekte an. Wir verließen die Wohnung, stiegen in sein Auto, ein Ford Pick-up, dem er den durstigen amerikanischen Achtzylinder-Motor ausgebaut und einen Perkins Diesel eingesetzt hatte, und machten uns auf den Weg, das erste Haus zu besichtigen.

Buenos Aires war erwacht. Es tobte das Leben. Tausende von Autobussen rasten durch die Stadt, als gelte es ein Rennen zu gewinnen. Es gibt hier viele Ampeln, aber kaum Verkehrsschilder. Vorfahrtsregel rechts vor links gilt auch hier. Es hält sich nur kaum jemand daran. Das Recht des Stärkeren bestimmt den Verkehr. Kommt es dann zu einem Unfall, sind Durchsetzungsvermögen und Verhandlungsgeschick gefragt. Die Neigung der Schuldigen, sich wortreich aus dem Staub zu machen, ist sehr verbreitet. Fußgänger sind keine Verkehrsteilnehmer. Sie werden deshalb fast vollständig ignoriert. Zeigen die Ampeln rotes Licht, wird angehalten. Wenn der Erste glaubt, lange genug gewartet zu haben, fährt er langsam los. Die anderen folgen ihm. Vor dem Abbiegen in eine Seitenstraße wird nicht geblinkt. Wer es dennoch tut, ist entweder ein Ausländer oder ein Pedant. Große Schlaglöcher werden mit alten Autoreifen markiert. Kleinere Löcher bleiben ungesichert. Wehe dem, der sie nicht rechtzeitig erkennt. Hier und dort gibt es auch Zebrastreifen, die aber keinerlei Einfluss auf das Verhalten der Autofahrer haben. Manche Autos sind so verrostet, dass man die losen Teile nicht einmal mehr anschweißen könnte. In solchen Fällen hilft man sich mit Draht. In den Straßen von Buenos Aires wird gern gehupt. Um zu grüßen, zu warnen, zu drohen, zu flirten oder die Ankunft am Zielort zu signalisieren. An den Innenspiegeln der Autos hängen Rosenkränze, was die Autofahrer jedoch nicht davon abhält, sich gegenseitig die übelsten Schimpfworte an den Kopf zu werfen wie etwa: "Hijo de re mil putas" (Sohn von mehr als tausend Huren) oder "La puta que te pariò" (Die Hure, die dich geboren hat) und Variationen dieser verbalen Ausfälle, die ich hier nicht weiter aufzählen möchte. Beschimpfungen haben hier immer und ausschließlich einen sexuellen Bezug. Das weibliche Geschlechtsorgan gehört dabei zu den bevorzugten Verbalinjurien. Die populäre Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsmerkmales ist concha. Durch das Wort conchita erfährt es seine Verniedlichung. Bei den Männern wird den Hoden weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als dem Zentralorgan. Die Hoden werden als bolas bezeichnet, was so viel wie Kugeln heißt. Wenn man sagt, dass jemand bolas hat, bedeutet das, dass er mutig ist. In diesem Sinne kann auch eine Frau bolas haben. Ein boludo hingegen ist ein Mann, der so hohl ist, dass er im Falle des Verlustes seiner Hoden hinweg schweben würde wie ein mit Helium befüllter Ballon. Dann wäre da noch der culo zu erwähnen. Die Übersetzung des vulgären Wortes Arsch ist culo, während der Hintern etwas feiner mit trasero übersetzt wird. Ein kleiner oder hübscher culo ist eine cola, nicht verwandt oder verschwägert mit dem gleichnamigen Getränk. Aber auch der Schwanz von Hund und Katze und allen möglichen Schwanzträgern unter den Tieren heißt cola, wobei das männliche Gegenstück pija heißt. Wenn jemand viel Glück hat, hat er nicht etwa Schwein, sondern Arsch, also culo.

Die Häuser, die wir an diesem Vormittag besichtigten, gefielen mir gar nicht. Die Räume waren meist ziemlich klein und dunkel. Manche hatten keine Fenster. Nur durch einen kleinen Lichthof in der Mitte des Hauses, bekamen sie ein wenig Tageslicht.  Selbst bei schönstem Sonnenschein konnte man dort ohne Lampe einen freundlichen Brief nicht von einem Zahlungsbefehl unterscheiden. Bis zum Mittag sahen wir uns drei Objekte an. Zum Essen gingen wir in eine der unzähligen Parrillas, den berühmten Grillrestaurants Argentiniens. Es gibt Parrillas, die aus einem 200 l-Ölfass bestehen, das, zur Hälfte aufgeschnitten, als Feuerstelle für den Grill dient. Dazu kommen ein paar Klappstühle und Tische, zusammengebaut aus Holzbrettern und Kisten und fertig ist das kleine Freiluftrestaurant. Aber es gibt auch andere, die im größten Luxus glänzen. Wichtig ist die Qualität des Fleisches, das Können des Parrillero, wie der Mann am Grill genannt wird, und das Material, das für das Feuer verwendet wird. Abgelagertes, trockenes Holz ist besser als Holzkohle, da die Holzkohle durch Polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe - kurz ⁠PAK⁠, den Geschmack des Fleisches negativ beeinträchtigt. Das Fleisch wird erst auf den Grill geworfen, wenn das Holz heruntergebrannt ist und nur noch die enorm heiße, weiße Glut unter dem Rost liegt.

Auf den Grillrost, der Parrilla, kommt vor allem Rindfleisch. Die quer geschnittenen Streifen der Rippen nennt man Tira de Asado. Vacio ist ein sehr dünner, großer Fleischlappen, der zwischen zwei verschiedenen Muskelpartien des Rindes wächst. Chinchulines sind Därme, in denen sich noch die vorverdaute Nahrung des Rindviehs befindet. Klingt eklig, schmeckt aber goldbraun gegrillt vorzüglich. Außerdem gibt es Chorizos, Morcilla, Molleja, Lomo und ganze Hähnchen oder Schenkel und Brust. Auf dem Tisch steht ein Korb mit Brot. Dazu trinkt man Gaseosas wie Cola und Sprite, Soda, Cerveza oder Vino tinto. Die Argentinier sehen sich gern als die größten Fleischesser der Welt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich nicht Bife, Milanesa, Carne Picada oder ein Stück Asado gönnen. Trotzdem gibt es hier sehr viele Menschen, die sich auch in hohem Alter noch bester Gesundheit erfreuen.

In einer einfachen Parrilla am Straßenrand aßen wir von allem etwas und leerten dazu eine Flasche Rotwein. Mit Mühe rafften wir uns nach über einer Stunde auf und fuhren zu einem Yachthafen am Tigre. Mein Freund wollte sich dort einen gebrauchten Kreiselkompass kaufen. Der Tigre ist ein Fluss, der mit vielen Nebenarmen durch die Provinz Buenos Aires fließt. Hier im Tigre-Delta scheint sich die Welt zwischen Aufbruch und Untergang nicht entscheiden zu können. Es gibt hier kleine Werften, die vom Flussschiff über kleine Segelyachten bis hin zum Fischerboot alles bauen, was das maritime Herz begehrt. Sie haben   volle Auftragsbücher. Andere haben ihren Laden längst dicht gemacht. Da liegen zwischen verlassenen Hallen und vom Unkraut überwucherten Slipanlagen verrottete Holzboote und von Rost überzogene Rohbauten kleinerer Stahlschiffe. An den Ufern und auf den kleinen Inseln des Tigre stehen meist Holzhäuser. Manche sind verlassen und mit den Jahren verfallen. Andere sind gepflegt und liebevoll bis ins Detail erhalten. Es gibt dort riesige Hallen mit sechsstöckigen Regalen, in denen die Motorboote der Wassersportfreunde von Buenos Aires darauf warten, von ihren Besitzern mit einem Gabelstapler herausgeholt und zu Wasser gelassen zu werden. Hunderte von Booten finden in so einer Halle Platz. Einige stehen voll bis ins letzte Regal, andere sind wie leergefegt. Teile der Wellblechdächer der verlassenen Hallen hat der Wind heruntergerissen. Regen und Korrosion besorgen den Rest. Kinder baden im Fluss, kleine Frachtschiffe laufen voll beladen mit Früchten den kleinen Fruchthafen an, und an einigen Anlegestellen warten offene Fahrgastschiffe auf Touristen, die sich zu einer Rundfahrt durchs Tigre-Delta schippern lassen wollen. Hier stehen viele der Häuser auf Stelzen, denn der Tigre tritt bei starken Regenfällen gern über die Ufer und überschwemmt dabei weite Teile des Deltas. Das passiert Jahr für Jahr und fügt den ärmsten Bewohnern, die in ebenerdig gebauten, kleinen Holzhäusern leben, jedes Mal großen Schaden zu. Diese Leute schimpfen, weinen und klagen, aber sie denken nicht daran, das Delta zu verlassen. Manche der besser gestellten Argentinier behaupten, dass sie auf die Überschwemmungen warten, um dann etwas von den spärlich fließenden Hilfsgeldern kassieren zu können. Später trocknen sie angeblich ihren Kram in der Sonne und versaufen das Geld.

Einer der Werftarbeiter erzählte uns von einem Ort namens Mauwi. Dort sollte es schöne Häuser mit großen Grundstücken geben. Etwa fünfzehn Kilometer vom Tigre entfernt fanden wir dieses Mauwi, das streng genommen den preußischen Namen Maschwitz trägt. Ingeniero Maschwitz war ein deutscher Ingenieur, der diesen kleinen Ort um die Jahrhundertwende gegründet hat. Er liegt etwa vierzig Kilometer von Buenos Aires entfernt und erstreckt sich links und rechts der Panamericana, meiner Traumstraße. Ein paar gepflasterte Straßen bilden das Zentrum des Ortes. Es gibt zwei Tante-Emma-Läden, drei Metzger, zwei Bäcker, vier Gemüsehändler, zwei Weinhändler, fünfzehn Restaurants, eine Eisdiele, zwei Eisenwarenläden, eine Disco, zwei Tankstellen, drei Immobilienbüros, zwei Reifenstationen (Gomerias) und ein paar Kioskos. Die Gomerias haben ständig alle Hände voll zu tun, da die meisten Autos mit ziemlich abgefahrenen Reifen unterwegs sind, die wegen ihrer Dünnhäutigkeit oft schon durch ein spitzes Steinchen ein Loch bekommen. Manche Gebrauchtreifen, die hier noch für fünf bis zehn Dollar gehandelt werden, sehen aus wie die Slicks aus der Formel 1. Der Rest von Maschwitz besteht aus Sandstraßen, die sich bei starkem Regen in Schlammwüsten verwandeln. Man kann sie dann nur noch mit Treckern oder Hubschraubern passieren. Es gibt einige bescheidene Häuser, die meist den alteingesessenen Maschwitzern gehören. Dann gibt es mehr oder minder phantasievolle Einfamilienhäuser. Und es gibt wahre Paläste mit eigenem Fußballplatz, Tennisanlage und einem Schwimmbecken, das der Bevölkerung einer Kleinstadt durchaus genügen würde. Vom Strohdachhaus über burgähnliche Gebäude bis hin zu Iglus aus Stein, Stahl und Beton ist alles vertreten, was Architekten planen, und Handwerker bauen können. Der Ort hat einen üppigen, alten Baumbestand aus Fichten, Pinien, Birken, Palmen, Eukalyptus- und Obstbäumen. Das mochte ich. Das hatte was. Die Luft fühlte sich sauber an, Vögel zwitscherten, der Himmel lächelte über dem nicht übermäßig gepflegten Dorf, in dem die Leute scheinbar genug Zeit fanden, zu leben.

Ein von der argentinischen Ehefrau eines Schweizer Gastronomen geführtes Immobilienbüro war unser erstes Ziel. Sie freute sich über unsere Anfrage, nahm einen Stapel Karteikarten und sortierte einige Adressen heraus. Sie setzte sich in ihr Auto und bat uns, ihr zu folgen. Wir fuhren durch den Ort und hielten am Tor eines Grundstücks, das von einer hohen Hecke umgeben war. Zwanzig Meter weiter gab es noch ein zweites, gleiches Tor, das offenbar als Einfahrt für Autos genutzt wurde. Vor der Hecke war über die gesamte Breite eine Mauer errichtet worden. Die Maklerin klatschte mehrmals kräftig in die Hände, was hier die Klingel ersetzt, und kurz darauf erschien eine gepflegte, stark gebräunte, grauhaarige Frau am Tor. Sie hatte auffallend weiße Zähne, die sie gern in einem freundlichen Lächeln zeigte. Ihre wachen, hellgrünen Augen musterten uns blitzschnell, um dann wieder aufgeregt über die Maklerin zu huschen. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie das Tor und ließ uns herein. Ein kleiner, dummer Hund kam angelaufen, flitzte um unsere Beine herum und kläffte dermaßen, dass man fürchten musste, er würde jeden Moment explodieren. Aber bevor das geschah, packte sie ihn am Genick und schaffte ihn weg. Dann führte sie uns durch das Haus. Es hatte zwei Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer, eine große Küche, ein Bad und eine Veranda, deren Dach von vier mit Rundbögen verbundenen Säulen getragen wurde. In einer Ecke des Grundstücks stand ein weiteres Gebäude mit einem Zimmer, einer kleinen Küche und einem sehr kleinen Bad, das Häuschen für den Hausmeister, den Casero. Daneben befand sich in einem quadratischen, einstöckigen Turm der Tank für die Wasserversorgung, der mittels einer elektrischen Pumpe aus einem ca. vierzig Meter tiefen Brunnen befüllt wurde. Außerhalb der großen Städte gibt es oft keine allgemeine Wasserversorgung. Also kümmert sich jeder selbst darum. Dann gab es da einen überdachten Grillplatz mit einem langen Tisch und einigen Bänken. Die schönste Nebensache aber war der Pool. In Deutschland eher eine Sache des Luxus, gehört er hier, wie man mir sagte, einfach dazu. Der Pool war tief genug, um kopfüber hineinzuspringen und groß genug, um mit vielen darin zu schwimmen. Der Preis für all das war so günstig, dass ich zwei Tage später den Kaufvertrag im Büro eines Notars unterschrieb. Dann zog ich mich auf die Toilette zurück. Ich öffnete mein Hemd und löste den Leinengürtel, den ich darunter trug. Dieser breite Gürtel war in sechs Taschen unterteilt, auf die ich das mitgebrachte Geld verteilt hatte. Ich hockte mich vor die Toilettenschüssel und zählte den Kaufpreis in durchgeschwitzten Dollarscheinen auf den Deckel. Es war mir ekelig, diesen an seiner Innenseite schweißnassen Gürtel wieder umzubinden. Aber ich konnte den Rest des Geldes, der immer noch sehr viel mehr war, als man für gewöhnlich mit sich herumträgt, eben nicht einfach in die Hosentasche stecken. Ich zog mein Hemd wieder an und ging zurück in das Büro. Man schaute fragend auf die lappigen Banknoten, und als der Notar das Geld gezählt hatte, wischte er wie nebenbei die Finger mit seinem Taschentuch und lächelte zufrieden, freundlich und unamtlich in die Runde. Alles war unter Dach und Fach, quittiert, unterschrieben, gestempelt und besiegelt. Hände wurden geschüttelt, Schultern geklopft, und in einer Wolke von Worten verließen wir die Kanzlei. In den folgenden Tagen sah ich mich nach einem geeigneten Auto um.

 

Es war der 10. Dezember 1986, der Tag X, die Stunde null. Wiedervereinigung meiner Familie. Ein neuer Anfang in einem anderen Land. Andere Leute, andere Sitten, andere Luft. Unsere kaputte Ehe wollten wir in Deutschland zurücklassen, sie einfach aussetzen wie einen ungeliebten Hund. Hier in Argentinien sollte der alte Funke neu erglühen, alles wieder zusammenfinden in Liebe, Harmonie, Verständnis, Toleranz, Lebensfreude und Tatendrang. Hier in Argentinien, in dem Land, in dem sie, Alicia, geboren wurde, in dem ihre Tanten und Onkel lebten, ihre Großmutter und ihr Vater, der vor Jahrzehnten in die Berge von Cordoba gezogen war.